Der Kitt der Krise: dauerhaft belastbar oder rasch bröckelig?

von Nico A. Siegel und Gert G. Wagner vom 30. März 2020

Arg bröckelig schien der soziale Zement in dieser Gesellschaft in den vergangenen Jahren geworden zu sein: Spaltung, Polarisierung, Radikalisierung – Schlagworte und Zustandsbeschreibungen wie man sie zuletzt immer wieder vernommen hat, selbst von sonst eher unaufgeregt agierenden empirischen Gesellschaftsforschern.

Den Fliehkräften der einst so stabil erscheinenden deutschen Mittelschichtsgesellschaft schienen seit der Flüchtlingskrise 2015 bisweilen Flügel gewachsen. In der Woche vor der Bundestagswahl im September 2017 sagten 70 Prozent der Wahlberechtigten in der ARD-Vorwahlerhebung von infratest dimap, sie hätten Sorge, dass die Gesellschaft immer weiter auseinanderdrifte. Trotz niedriger Arbeitslosigkeit, stabiler wirtschaftlicher Lage seit Erholung von der Finanzkrise 2009, die neue, die politisch-kulturelle Konfliktlinie fand spätestens seit 2015 konstant Eingang in Analysen unseres Zusammenlebens. Etablierte Organisationen, nicht zuletzt SPD und CDU/CSU, sahen sich einem wachsenden Legitimitätsdefizit konfrontiert: In der infratest dimap - Studie zum 70jährigen Bestehen der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2019 gaben 50 Prozent der Befragten ihrem Glauben Ausdruck, die wichtigsten Herausforderungen der Zukunft könnten nicht von den bestehenden etablierten Parteien bewältigt werden, sondern besser von neuen Parteien und Bewegungen. Nirgendwo wurde die Krise des Etablierten so handfest messbar wie bei den Wahlergebnissen der beiden klassischen Volksparteien der Bundesrepublik in den letzten Jahren. Und gerade in der Corona-Krise ist es nun die „große Zentrumskoalition“ aus Union und SPD, die die Republik durch eine ihrer schwersten Herausforderungen führen soll? Zumindest vorübergehend schweißt der Krisenmodus Schwarz-Rot und die Bevölkerung in einem beachtlichen Maße zusammen.

Im Sog der Corona-Krise hat sich unser Zusammenleben, unser aller Alltag in kürzester Zeit drastisch verändert. Der politische Möglichkeitsraum hat sich deutlich verschoben: weg vom Wunsch möglichst hoher Freiheitsgrade für den Einzelnen, hin zu kollektiver Vernunft und kollektivem Zusammenstehen. Soziales Zusammenrücken geht in diesen außerordentlichen Zeiten paradoxerweise mit dem physischen Abstandsgebot zum Nächsten einher. Dabei ist der Anteil derjenigen, die noch weitreichendere Maßnahmen für angemessen halten, seit Inkrafttreten von Versammlungsverboten und weitreichenden, aber nicht totalen Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen rückläufig: von noch rund 40 Prozent vor Inkrafttreten der Einschränkungen Ende vorletzter Woche auf gerade noch gut 20 Prozent in den letzten beiden Tagen. Zwei Drittel halten die derzeit geltenden Maßnahmen insgesamt für angemessen.

 

Primat der Exekutive mit Rückenwind

In der Krise erhalten demokratisch legitimierte Akteure – vorübergehend – ein generalisiertes Handlungsmandat, das sie sich im alltäglichen Regierungs-Klein-Klein manchmal so sehr wünschen mögen. Mit diesem Mandat geht bei vielen Menschen auch ein generalisierter Vertrauensvorschuss einher – allerdings in Verbindung mit oft hohen Erwartungen an die Wirksamkeit politischer Maßnahmen. Wie schon in der Finanzkrise 2009 weckt die Krise vorübergehend die Sehnsucht nach einem handlungsstarken Staat, der „soziale Paternalismus von oben“ erwacht zu neuem Leben. Selbst temporäre Ausgangsbeschränkungen und Versammlungsverbote erscheinen über politische Anhängerschaften hinweg plötzlich nicht nur legitim, sondern geboten. Im ARD-DeutschlandTREND Extra vom Montag letzter Woche zeigten sich drei Viertel der Deutschen mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung zufrieden. Sage und schreibe 95 Prozent sprachen sich für Kontakteinschränkungen aus. Im Rahmen des täglich von infratest dimap durchgeführten COMPASS (Corona Online MeinungsPanel Survey Spezial), der die etablierten und repräsentativen Umfragen um kurzgetaktete Online-Surveys ergänzt, um die aktuellen Stimmungsschwankungen in diesem dynamischen Umfeld einzufangen, befürworteten am Wochenende bei kleiner werdenden Zuwächsen an Infizierten immer noch rund 90 Prozent der Befragten die Einschränkungen von Kontakten.

 

Dies macht deutlich: Die große Mehrheit stützt – zumindest vorübergehend – die Exekutive, deren Primat sich während der Krise fast lehrbuchhaft entfaltet hat: nicht nur pathetische Appelle, sondern beschleunigte Gesetzgebung, breite Mehr-Parteien-Koalitionen und nur gelegentlich und ziemlich unbedeutende Scharmützel zwischen den Bundesländern und ihrer Landesfürsten. Bedrohung und Verunsicherung eröffnet in der Krise im Gemeinwesen zumindest kurzfristig neue Potenziale für Gemeinsinn, fördert Integration nach innen, nährt aber auch Desintegration nach außen. Eine breite Mehrheit in der Bevölkerung hält nach Zahlen von Infratest dimap die Aussetzung des internationalen Reiseverkehrs für richtig, mehr als 80 Prozent spricht sich für die Schließung nationaler Grenzen aus. Seit der Gründung der EWG gab es keinen so flächendeckenden „backlash“ zu nationalstaatlichen Alleingängen und politischen „Mein Land zuerst“-Reflexen. Dass die Solidarität im Sog der Pandemie in vielen Fällen nur bis an die nationalen Grenzen reicht, hat letzten Mittwoch sogar die zwischenzeitlich auf der politischen Bühne fast unsichtbare EU- Kommissionspräsidentin öffentlich eingestehen müssen.

                                  

Eine deutliche Mehrheit im Lande stimmt der These zu, die Corona-Pandemie biete die Chance, sich gegenseitig in Rücksicht zu üben und neue Formen des Miteinanders zu erproben. Die Krise hat also nicht nur kurzfristig die politischen Machbarkeitskorridore verschoben, sondern ein Stück weit den Optimismus genährt, dass sich auch künftig weite Teil der Gesellschaft prosozialer verhalten werden als dies vor der Krise der Fall war. Die Sorge um den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft ist derzeit rückläufig. Wie lang dieser Trend anhält ist freilich völlig offen, zumal so lange, wie wir nicht wissen, wann die Epidemie ihren Höhepunkt erreicht hat und ob dann Engpässe in der gesundheitlichen und allgemeinen Versorgung drohen. Und: der wirtschaftliche Einbruch, der auch Deutschland trifft, wird mittelfristig erhebliche soziale Kosten mit sich bringen. Der Ruf nach dem starken Staat während der Hochtage der Finanzkrise hat jedenfalls weder dauerhaft die Zufriedenheit mit der Demokratie gestärkt noch das Vertrauen in die etablierten politischen Kräfte. Wie 2009 wirkt die große Zentrumskoalition zwischen Union und SPD derzeit als die wie für die Krise geschaffene, parteiübergreifende Regierungsallianz der Mitte. Ein Versprechen auf gesteigertes Vertrauen in die Zukunft der beiden alten Volksparteien stellt dies aber keineswegs dar.

Wir sind Zeitzeugen eines historisch einmaligen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Großexperiments, um das die Menschen nicht gebeten haben, das sie aber bislang mehrheitlich unterstützen. Maß und Ziel sind bei diesem außerordentlichen Kraftakt wichtig. Dies wird unter anderem daran deutlich, dass seit Voranschreiten der Corona-Pandemie ein größer werdender Teil sich Sorgen um die allgemeine wirtschaftliche Lage macht.

Vor gut zwei Wochen machten sich noch weniger als 30 Prozent der Menschen große Sorgen um die allgemeine wirtschaftliche Lage. Innerhalb von nur 8 Tagen verdoppelte sich dieser Wert in unserem CoronaCOMPASS auf 52 Prozent beinahe, ehe er nach Verkündigung weitreichender staatlicher Hilfspakete Anfang und Mitte letzter Woche wieder leicht unter die 50 Prozent-Marke fiel. Doch bereits am vergangenen Freitag und dann am Samstag sorgten die nicht abreißenden schlechten Nachrichten aus nationaler und internationaler Wirtschaft dafür, dass wieder mehr als 50 Prozent unserer Befragten sich große Sorgen um die wirtschaftliche Entwicklung machten. Diese Sorge wiegt auch schwerer als diejenige nach der eigenen Gesundheit.

Es erscheint sinnvoll und durchaus angemessen, dass jetzt in der Wissenschaft und in der Politik erste Stimmen – mit angemessener Tonalität – laut werden unter welchen Bedingungen und wie genau Kontaktbeschränkungen wieder gelockert oder aufgehoben werden sollten – und ab wann und auf Basis welcher Schutzmaßnahmen Kinder wieder in Betreuungseinrichtungen und Schulen gehen dürfen. Der Anteil derjenigen, die sich im Alltag sehr stark eingeschränkt fühlt, ist zuletzt stetig gewachsen. Insofern ist es wichtig, dass mehr denn je nach Ausbruch der Krise mit Augenmaß danach geschaut wird, inwieweit die Deutschen nicht nur bereit sind, sich im Anflug der Krise kurzfristig weitreichenden Notwendigkeiten anzupassen, sondern diese auch über einen längeren Zeitraum als hinnehmbar ertragen. Und befürworten. Die Krise kann vorübergehend den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärken. Über einen längeren Zeitraum bleibt aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Folgekosten die enorme Herausforderung, ein gesellschaftliches Auseinanderdriften zu vermeiden.